Der Arzt ist Anwalt des Patienten!

Selbstverständlich ist es nicht bei jedem so, dass langandauernde Arbeitslosigkeit zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen  führt, insbesondere dann nicht, wenn der Leerraum ausgefüllt wird durch eine andere sinnvolle Tätigkeit, die in vielen Fällen zwischen Hobby und Erwerbsleben angesiedelt ist.

Aber in der Mehrzahl der Fälle darf man davon ausgehen, dass auch schon kürzere Arbeitslosigkeit in enormer Streß ist und zu gesundheitlichen Folgen führt.

Dies zu erkennen, braucht man weder eine großartige statistische Untersuchung, noch muß man diplomierter Mediziner sein. Dazu genügt, mit offenen Augen das gesellschaftlich Umfeld im näheren und weiteren Kreis zu beobachten.

In der heutigen Gesellschaft ist Arbeit oder eine geregelte vergleichbare Tätigkeit ein Stück sozialer Struktur und Sicherheit, die stabilitätserhaltend und gesundheitlich relevant ist. Verlust dieser Sicherheit ist in vielen Fällen mit einem gesundheitlich nachteiligen Prozeß verbunden.

Es sollte die Betrachtung jedoch nicht so eng gesehen werden. Der Unterzeichner erinnert sich an die unsäglichen und schwer verträglichen Anwürfe von einigen Politikern, schlecht recherchierend und nicht sachverständigen Journalisten, die von Zeit zu Zeit das Problem der ach so böswillig, ja gerade  zu verbrecherisch krank schreibenden Ärzte  ins Spiel bringen. Sie übersehen dabei den Tatbestand, dass unser Arbeits- und Sozialwelt grob vereinfachend pathologisch gespalten ist in zwei Klassen:

Die einen, die Arbeit haben und unter teilweise immensem Streß leiden mit schweren gesundheitlichen Folgen und die anderen, die keinen Arbeit haben und daher krank werden.

Jeder, insbesondere der niedergelassene Hausarzt, weiß, daß es genügend Arbeitsnehmer gibt, die wenn sie sich nicht gerade im windgeschützten Plätzchen einer staatlichen Versorgsstelle aufhalten, einem enormen Leistungdruck, einer enormen zeitlichen Beanspruchung ausgesetzt werden. Menschen , die statt auch zehn und mehr Stunden arbeiten, sind keine Seltenheit. Arbeitnehmer, die aufgrund der Personalknappheit in Verwaltung und Betrieben die Arbeit von zwei oder drei ausfüllen müssen, ebenfalls nicht.

Auch die Ursache ist relativ leicht zu lokalisieren: die Lohn- und Nebenkosten, aber auch reines Kostenoptimierungsdenken Personalfragen und schließlich häufig genug mangelhafteste Personalführungkompetenz in den Abteilungen.

Was die Aussagen der Politiker betrifft, so ist der Unterzeichner der Ansicht, dass er (wenn er auch nur halbwegs die Maßstäbe "Selbstpflege" anlegen würde) geradezu hemmungslos inder Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit sein müßte.
In diesem Zusammenhang wäre allerdings auch zu wünschen, dass die ärztlichen Standesvertreter diese Dinge klarer beim Namen nennen  und sowohl die Interessen der Ärzte als auch der ihnen anvertrauten Patienten etwas vehementer in der Öffentlichkeit artikulieren würden. Diesbezügliche Hoffnung dauerhalt aufrechtzuerhalten erscheint jedoch schwer.
Es sollte nicht vergessen werden, dass der niedergelassene Arzt sich zunächst einmal als Anwalt des Patienten zu verstehen hat und nicht als Büttel der Arbeitgeber oder des Staates oder als Kosteninteressenwahrer der Solidargemeinschaft der Versicherten. diese ordnungspolitischen Bezugsorientierung bedarf dringend ihrer Rückerinnerung.

Die gesetzlichen Krankenkassen scheinen ihren Aufgaben auf diesem Gebiet aus zwar nachvollziehbaren aber nicht akzeptierbaren Gründen wohl nicht wahrnehmen zu wollen. Zumal ihnen diese Haltung durch die Struktur unseres Gesundheitswesen nicht nur erleichtert, sonder geradezu in den Schoß gelegt wird

Dr. W. Escher Oldenburg

Veröffentlicht in der Praktische Arzt 3/94

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