Der Allgemeinarzt 9/1999 S 786 - 788

Arbeit adelt – Energie auch ?

Der Energiebegriff in Physik, Medizin und Akupunktur 

Der Begriff Energie ist zunächst ebenso universell einsetzbar wie auf den zweiten Blick schillernd. Viele führen das Wort „Energie“ im Mund, ohne zu wissen, wovon sie eigentlich reden. Dabei ist die Energie eine Realität, die es näher zu betrachten lohnt.

Was den Energiebegriff in der Physik und den Naturwissenschaften ganz allgemein betrifft, so kann man es sich zumindest für den Bereich der klassischen Physik sehr einfach machen. Demzufolge ist die Energie ganz eindeutig eine Potentialfunktion im herkömmlich mathematischen Sinne. Bestimmte physikalische Objekte können mit einem Potential in Form der Energie verbunden werden. Es gibt mehrere Formen von Energie, die gemäß dem Energieerhaltungssatz von Robert Mayer (der übrigens Arzt war) aus dem Jahre 1848 äquivalent sind und gegebenenfalls – wenn auch nicht mit 100%-igem Wirkungsgrad – ineinanderüberführt werden können. Relativ einfach ist der Energiebegriff in der Mechanik zu fassen, am anschaulichsten im Sinne der potentiellen Energie, die leicht in kinetische Energie und die wiederum z. B. in die Spannungsenergie einer Feder umgewandelt werden kann. Äquivalent und durchgehend in den gesamten exakten Wissenschaften ist dieser Energiebegriff. Die Energie einer chemischen Verbindung besagt demnach ein Energiepotential, das beim Zerfall dieser energiereichen Verbindung frei wird oder aufgebracht werden muss, um diese energiereiche Verbindung herzustellen. Analoges gilt für die wohl beeindruckendste Form der Energie in diesem Sinne: die Kernenergie. Auch gilt, dass energiereiche Zustände des Atomkerns bei der Spaltung in energieärmere  Produkte umgebaut werden, wobei die überschüssige Energie frei wird. Umgekehrt, aber analog ist es bei der Kernfusion, hier ist der fusionierte Aggregatzustand der energieärmere; demzufolge wird Energie frei – in ganz gigantischer Menge. Wenn wir zum Energiebegriff in der Medizin kommen, so ist es, sofern wir uns auf der physiologischen Ebene, genauer gesagt, der biochemischen Ebene, befinden, relativ klar. Es gibt energiereichere Verbindungen, die in energieärmere Verbindungen überführt werden können. Bei der Muskelkontraktion wird beispielsweise ATP in ADP übergeführt und mechanische Arbeit freigesetzt. Auch hier gilt ganz allgemein für den Begriff der Energie: es ist ein Potential, das in der Lage ist, Arbeit im weitesten Sinne freizusetzen oder zu verrichten. Demzufolge ist die Anhäufung von energiereichen Produkten (sofern sie in der Lage sind, durch Abbau Arbeit zu verrichten) mit einer gewissen Energie im Sinne der Medizin gleichzusetzen.  Dieser klare Energiebegriff verleitet nun dazu, ihn analog anzuwenden: Im Umkehrschluss, dass da, wo irgend etwas, was man irgendwie als Arbeit bezeichnen könnte, verrichtet wird, Energie vorhanden sein  muss, wird Energie postuliert: Zum Beispiel die Energie in der Weißkraft eines Waschmittels – formal ganz abstrus – oder was in übertragenem Sinne schon richtiger ist: ein energiegeladener Mensch (d. h. einer, der in der Lage ist, Arbeit zu verrichten). Doch zum Energiebegriff im Umgangssprachlichen und Paramedizinischen: Wie jeder positiv besetzte  Begriff – und das gilt trotz des schlechten Image der Atomenergie nach wie vor – wird der Begriff „Energie“ liebend gern in paramedizinischen Kontexten verwendet. Da ist z. B. die Rede von „Energieströmen, die beim geistigen Heilen von Menschen fließen“, von dubiosen „ultrafeinen Energieschwingungen“, die beider – reale physikalische Begriffe missbrauchenden – Theorie der Bioresonanz mitspielen, und nicht zuletzt von Energiebahnen als Meridiane bei der Akupunktur. Wenn wir uns dem Konzept der strömenden Energie oder der „Energie in Bahnen“ zuwenden, so bedeutet die Größe Energie als Potentialfunktion zunächst keinen Widerspruch zu einem strömenden Medium:  Einerseits kann das strömende Medium energiereich sein, wie z. B. das Gas in Rohrleitungen, oder es wird über Leitungen ein Potentialausgleich geschaffen und in diesen Leitungen Energie freigesetzt – so z. B. bei der Umwandlung von elektrischer Energie in Wärmeenergie in einem elektrischen Leiter. Was hat die jedoch alles mit dem Energiebegriff in der Paramedizin zu tun ? Knappe Antwort: Nichts. Die Energie ist ein Begriff, dessen physikalische Realität von vielen Menschen, die ihn gebrauchen, nicht wirklich verstanden wird. Insofern wird dieser Begriff in paramedizinischen Anwendungen dann auch nicht konkretisiert werden, denn er erfüllt schon alles, was notwendig erscheint: 1.) Er ist positiv besetzt und mit dem Nimbus des Undurchschaubaren und Wissenschaftlichen verbunden. 2.) Er ist eine physikalische und chemische, ganz allgemein eine naturwissenschaftliche Realität, ein Schlüsselbegriff, der bis in die modernsten Begriffe der Quantenphysik reicht. 3.) Er wird in seiner physikalisch / chemisch / biochemischen Realität nur von wenigen tatsächlich verstanden. Er ist in den populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen auch durch die faszinierende, ja fast magische Formel E = mc² bekannt. 4.) Den Beweis zu führen, dass irgend etwas nichts mit Energieveränderung zu tun habe, ist auch unter streng wissenschaftlichen Kriterien schlechterdings unmöglich. 5.) Dem insbesondere in Deutschland existentiellen Wunsch, für ein Geschehen eine Ursache zu haben, kommt der Energiebegriff insofern sehr gelegen – wenn auch die eigentliche Ursache mehr im Suggestiven, Plazeboiden oder klassisch Physiologischen zu suchen ist. Es sei erwähnt, dass sog. Kausale Begründungen in Bereichen der Paramedizin aber auch der sog. Schulmedizin die logisch klaren Anforderungen der Aussagenlogik häufig grob missachten.   Dr. Escher